Die kleine Seele Eryjon (Teil 3)

Als Eryjon langsam erwachte, fühlte er sich wohl und entspannt. Er schien in einem kleinen Raum zu sein, der sanftes Licht und wohlige Wärme verströmte. Eryjon nahm eine wunderschöne Lichtgestalt wahr. Es war das göttliche Sein, welches neben ihm stand. Das göttliche Sein lächelte Eryjon an und sagte ihm, dass es ihn in seinem neuen Erdendasein begleiten würde, damit er niemals vergesse, dass er geliebt und geschützt ist durch seine Führung. Für ihn habe die Zeit begonnen, das neue Erdendasein zu erfahren.

Eryjon war ein wenig überrascht, doch im gleichen Augenblick trat die Erinnerung ein, die ihm die Zeit der Wachstumsphase im Mutterleib und seine Geburt zeigte. So wusste er, dass er als einziger Sohn in eine Familie hineingeboren war, um dort den Lernschritt der Annahme seines Selbst zu erfahren und seine irdische Familie zu lehren, Annahme zu leben. Mit dem Wissen seiner Lernaufgabe und seines Lebensplans vergaß er es jedoch zugleich wieder, und die neue Erdenzeit mit all ihren Herausforderungen konnte beginnen.

Eryjon war ein ruhiger Säugling, der wenig schrie und überaus schnell zufrieden war. Seine Bedürfnisse bestanden darin, die Liebe, die er erhielt, in sich aufzunehmen. Er hatte noch drei Schwestern, die alle älter waren als er. Die Schwestern stritten sich sehr oft, waren eifersüchtig aufeinander und kämpften um die Gunst der Eltern. Seine Eltern waren oft sehr angespannt, und der Streit ihrer Töchter ging auf sie über. So herrschte viel Streit und Kampf; jeder von ihnen sah nur sich, sein eigenes Wohlergehen, und machte sich keine Gedanken um den anderen, darum, wie er sich fühlte, was in ihm geschah.
Eryjon selbst versuchte schon als Säugling durch seine ruhige Art Frieden in ihnen zu bewirken, indem er jedem einzelnen von ihnen seine Liebe schenkte. Sie waren jedoch so sehr mit ihren Forderungen beschäftigt, dass sie ihn nicht wahrnahmen. Je älter Eryjon wurde, umso mehr bemühte er sich, dass Frieden doch zwischen ihnen würde, doch die Zeit verging und kein Frieden kehrte ein. Je mehr er sich anstrengte und keinen Erfolg sah, desto mehr reifte in ihm der Gedanke, dass er nicht zu ihnen gehörte, dass er ganz anders war als sie und er sie deshalb nicht erreichen konnte. Er fühlte, dass sie ihn nicht ernst nahmen, ihn nicht wahrnahmen. Dies löste in ihm den Glauben aus, dass er nicht richtig wäre, nicht wahr wäre, nicht gut genug wäre.
Seine Familie und sein Vater sagten ihm, dass er härter werden müsse, um sich im Leben zurechtzufinden, dass er so niemals Erfolg haben werde. Eryjon strengte sich noch mehr an, um so zu werden wie sie, wie sein Vater es sich wünschte. Doch was er auch tat, wie sehr er sich auch bemühte, es kehrte kein Frieden ein. So war er oft traurig und verängstigt. In jenen Momenten spürte er die Lichtgestalt, das göttliche Sein, und er wusste, dass die Liebe die Kraft sein sollte, die alles im irdischen Leben bestimmt. Doch so sehr er auch liebte und sich bemühte, keiner in seiner Familie nahm ihn und seine Liebe wahr.
Eryjon erlebte in seiner irdischen Familie viele Verletzungen – Verletzungen, die im gegenseitigen Nichtverstehen und in Missachtung stattfanden.

Er begann mehr und mehr an sich zu zweifeln und konnte sich selbst nicht mehr annehmen, da er glaubte, dass mit ihm etwas nicht richtig sei. So gab er sich eines Tages die Schuld daran, dass kein Frieden herrschte in der Familie. Er glaubte, er hätte sich mehr bemühen, mehr anstrengen müssen. Also strengte er sich noch mehr an, um allen gerecht zu werden.

Als er nun in die Schule kam, glaubte er, einen Ort gefunden zu haben, an dem er endlich zeigen konnte, beweisen konnte, dass er gut und richtig war. So freute er sich, einen Ort gefunden zu haben, an dem er die Annahme seines Selbst erfahren könnte. Doch die Schule erwies sich nicht als Ort des Friedens, nein, es war für ihn sehr anstrengend, mit den Menschen dort zu sein. Wie in seiner Familie herrschte viel Streit.
Eryjon konnte es nicht ertragen, wenn ein Mensch von einem anderen verletzt wurde. Sein Herz schmerzte so sehr, voller Mitgefühl war er in seinem Denken und Fühlen. So half er immer den Schwächeren, doch das konnten die anderen nicht verstehen, verstanden nicht sein Handeln, Denken und Fühlen. So begannen sie, ihn auszugrenzen, mehr und mehr. Als er seinen Vater um Hilfe bat, beschimpfte dieser ihn und sagte, dass er nun endlich beweisen müsse, dass er so sei wie er und seine Familie.

Eryjon fühlte sich vollkommen allein, und er glaubte fest daran, dass er nicht gut genug wäre, dass er jener wäre, der nicht richtig war. Manchmal war er voller Trauer, ja, dachte daran, sich jenes Leben zu nehmen, welches ihm mit Verachtung und Missachtung begegnete. Doch immer, wenn ihn jene Gedanken berührten, spürte er die Lichtgestalt, die ihn einst in seinem neuen Erdendasein begrüßt hatte. Darüber bekam er immer wieder den Mut, nicht aufzugeben. Eryjon spürte in jenen Momenten die Annahme seines Seins.

So beendete er die Schulzeit in dem Gefühl, dass er nicht liebenswert wäre, nicht gut genug und nicht richtig. Dann geschah etwas Einschneidendes in seinem Leben: Sein Vater wurde sehr krank. Er litt furchtbare Schmerzen.
Obwohl der Vater Eryjon oft ungerecht behandelt hatte, ja oftmals kalt und abweisend zu ihm gewesen war und Eryjon keine Annahme von ihm erfahren hatte, war er voller Mitgefühl zu seinem Vater und sagte ihm, er würde ihm gerne helfen.
Da geschah etwas Wundervolles für Eryjon: Sein Vater nahm seine Hilfe an. Er spürte, dass Eryjon etwas hatte, das niemand sonst in der Familie besaß – eine Art zu lieben, die Schmerzen und Wunden heilt. Zum ersten Mal in seinem Leben spürte Eryjon die Liebe seines Vaters, die Würdigung und Achtung, die er ihm schenkte, und Frieden kehrte in ihn ein.
Nach einigen Wochen erlag sein Vater der Krankheit. Eryjon war bei ihm, als es geschah, und hielt seine Hand. Seines Vaters letzte Worte waren:
„Ich liebe dich und bin so stolz, dein Vater zu sein. Sohn, bleibe wie du bist, denn du bist wundervoll und einzigartig in deiner Art. Danke.“
Dann schloss er die Augen und starb.

Eryjon weinte sehr, der Schmerz war groß in ihm, da erschien wieder die Lichtgestalt, das göttliche Sein umarmte ihn sanft. Das göttliche Sein sagte Eryjon, dass die Seele seines Vaters gelernt hatte, in die Annahme zu gehen und dass er es gewesen sei, der ihn dies gelehrt habe.
Da wurde Eryjon ganz ruhig und konnte sich selbst annehmen, war stolz auf sich, wusste, dass er in seinem Denken und Fühlen richtig und gut war, wusste, dass die Liebe die Kraft war, die alles überwinden würde, die Frieden bringt allen, allen, allen.

Von dort an lebte Eryjon ein neues Leben. Es war nicht mehr wichtig für ihn, angenommen und geliebt zu werden. Er wusste, dass er angenommen und geliebt wurde. Für ihn war nun wichtig, dass er die Menschen annahm, so wie sie waren. Viele Menschen forderten ihn heraus, manche stellten ihn auf eine harte Probe, doch waren es seines Vaters Worte, die er in jenen Momenten hörte, so dass er wieder bei sich war in seinem Sein, um aus sich heraus zu handeln und zu sprechen – in der Sprache der Liebe.

So lebte Eryjon ein bewegtes Leben mit vielen Höhen und Tiefen. Er lebte Annahme und lehrte die Menschen die Annahme, dass jeder Mensch, so wie er ist, vollkommen richtig, gut und liebenswert ist.
Als Eryjon mit fünfundneunzig Erdenjahren die Erde verließ, war es sein Vater, der kam, um ihn auf den Weg in die höhere Ebene zu begleiten.
Tiefe Freude erfüllte Eryjon, er wusste, er hatte seine Lernaufgabe in diesem irdischen Leben erfüllt.

Eryjon erwachte aus dem Schlaf. Unter Tränen berichtete er dem göttlichen Sein, was er erlebt hatte. Er sagte, er könne sich nun genau daran erinnern, wie es sei, keine Annahme zu erleben, doch auch an das Gefühl, wenn die Annahme gespürt und gelebt wird.
Eryjon war in tiefer Dankbarkeit zu dem göttlichen Sein, welches ihn in jenem Leben mit seiner Liebe geführt hatte, so dass er Annahme erfahren durfte. Voller Freude strahlte er das göttliche Sein an und sagte ihm, er wolle allen Seelen helfen, dass sie Annahme erfahren, um darüber die Liebe in ihr Dasein einfließen zu lassen, damit sie darüber den Weg zu dem göttlichen Sein gehen können.
Sie unterhielten sich noch eine kleine Weile. Eryjon hatte viele Fragen. So wollte er wissen, wo die Seele seines damaligen Vaters nun sei. Das göttliche Sein beantwortete ihm all seine Fragen geduldig, bis in Eryjon Ruhe einkehrte und er bereit war, die nächste Reise zu tun.

Eryjon lehnte sich zurück, spürte noch die sanfte Berührung des göttlichen Seins, dann wurde es dunkel um ihn.

Fortsetzung folgt

 

Licht und Liebe
Birgit

Hinweis:
Verfasst von Birgit Aulich